Anno 1928 – Das sind Christen?

Tagblatt, 8. September 1928

Gerichtssaal.
Das sind Christen?

Tragödie eines armen Dienstmädchens.

St. Pölten. Dieser Tage wurde im Gerichtssaale in Pöggstall die furchtbare Tragödie eines armen Landdienstmädchens aufgerollt. Maria Reiter war Stallmagd im ***hof in Pöbring bei Pöggstall. Zu Weihnachten hörten nun die Nachbarn um Mitternacht ein schauriges Wimmern aus dem Kellerloch des ***hofes, worauf sie sofort Anstalten machten, die Magd, die sich im Keller befand, zu befreien. Der ***hofbauer mußte dann auf Geheiß die Magd ins Spital bringen. Er spannte Ochsen ein, bettete die Magd auf Stroh und deckte sie mit einigen Kotzen zu, worauf das Fuhrwerk in grimmiger Kälte langsam nach Melk fuhr, wo die Stallmagd abgegeben wurde.

Als die Maria Reiter aus dem Kotzen herausgewickelt wurde, bot sich den Aerzten und Krankenschwestern ein furchtbarer Anblick. Der ganze Körper war mit einer Kruste Menschenkot bedeckt, die Füße waren bis zu den Knien schwarzgefroren und bis zu den Knochen angefault. Die Aerzte wandten nun ihre ganze Kunst auf, um die 35jährige Maria Reiter zu retten doch mußten ihr die beiden Füße bis zu den Knien abgenommen werden. Die Gendarmerie stellte in ihren Erhebungen fest, daß dem armen, geistesschwachen Geschöpf eine unmenschliche und entsetzliche Behandlung zuteil geworden war. Obwohl sie überaus fleißig war und jede Arbeit willig verrichtete, bekam sie zu wenig zu essen. Ihre karge Mahlzeit, Suppe und Brot, mußte sie im Stall einnehmen. Da sie Hunger hatte, bettelte sie bei den Nachbarn, was ihren Dienstgeber derart erboste, daß er sie in die Scheune einsperrte. Weil sie nun nichts als Fetzen zum anziehen hatte und im Winter ohne Fußbekleidung im Freien arbeiten mußte, erfror sie sich die Füße und wurde arbeitsunfähig. *** machte daraufhin kurzen Prozeß und steckte die Stallmagd in den Keller, wo sie mehrere Wochen zubrachte, bis sie zu den heiligen Weihnachten aus ihrer entsetzlichen Lage befreit wurde.

*** hatte sich vor dem Pöggstaller Bezirksgericht zu verantworten. Die Zeugen sagten fast alle belastend gegen ihn aus, worauf er zu einer Arreststrafe in der Dauer von – nur – einem Monat verurteilt wurde. Reiter ist jetzt im Melker Armenhaus.

Anmerkung: Der Name wurde aus Rücksichtnahme auf ev. Nachfahren unkenntlich gemacht.

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Andrea & Robert Jiranek

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